Prävention muss praktikabel sein und darf nicht in Stress ausarten

Prävention hört sich für viele nach „ganz schön anstrengend“ an. Jeder von uns weiß inzwischen, dass wir uns bewegen sollten, gesund essen müssen und für weniger Stress sorgen. Das artet im Alltag aber oft erst in Stress aus. Wie schaffen wir es, gesund zu bleiben, ohne einen völlig durchgetakteten Alltag bestreiten zu müssen, der uns, auch außerhalb der Arbeit, mehr stresst als hilft?

Roland Tennie: Das Thema Prävention hat in der Medizin in den letzten Jahren einen eigenen und wichtigen Stellenwert bekommen. Leider aber erst jetzt. Grundsätzlich muss Prävention praktikabel sein und darf natürlich nicht in Stress ausarten, sonst ist es keine Prävention mehr. Es gibt kleine Maßnahmen, die jeder einfach und schnell umsetzen kann. Für den einen kann das dreimal die Woche ein paar Bahnen schwimmen sein oder zu viel Zucker aus dem Speiseplan streichen. Für den anderen sind es ausgedehnte Spaziergänge mit dem Hund und vieles mehr. Wichtig ist aber, dass jeder seinen eigenen Bedarf analysieren muss. Was für den einen richtig ist, mag für den anderen Stress bedeuten. Aber auch eine große Lösung, die den ganzen Alltag umstrukturiert, kann einem das Leben erleichtern und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir nicht krank werden.

Ich bin der Überzeugung das jeder in der Lage ist, ganz schnell, seine eigenes, kleines Präventivprogramm zu starten. Drei Tipps, die ich jedem geben kann und die wir alle einhalten sollten, sind:

  1. Achten Sie auf Ihre Schlafhygiene
  2. Seien Sie bei der Auswahl Ihrer Lebensmittel kritisch
  3. Vermeiden Sie den Umgang mit schon ewig bekannten gesundheitsschädlichen Stoffen

Außerdem helfen kleine Auszeiten den Tag über, wie Spaziergänge und Ruhephasen. Sie geben der Prävention im Alltag mehr Bedeutung. Im Übrigen sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass gerade in medizinischen Berufen die Prävention am meisten der Zeit hinterherhinkt.

Leider hat der Gesetzgeber es bisher nicht geschafft, das Thema „Wie bleibe ich gesund?“ in einen schulischen und beruflichen Ablauf einzubinden. Es gibt jedoch grundsätzliche Maßnahmen, die eigeninitiativ entstehen und der allgemeinen Prävention schon sehr früh dienen. Kindergärten organisieren zum Beispiel gesunde Frühstücke, Schulen achten auf das richtige Umgehen mit zeitlichen Abfolgen, um Überforderungen und Stress bei Schülern vorzubeugen. Solche und andere Programme halte ich für sehr wichtig. Das könnten wir ganz grundsätzlich erarbeiten, müssen sie dann aber auch konsequent umsetzen.

Welche Rolle spielt unser Immunsystem und wie schaffen wir, dass es stark ist?

Unser Immunsystem arbeitet 24 Stunden am Tag, um uns vor Krankheiten zu schützen und, um unsere Gesundheit aufrechtzuerhalten. Es kennt keine Ruhephasen. Wenn man möchte, könnte man es sogar als das beste präventive System in unserem Körper bezeichnen. Es erneuert sich kontinuierlich und arbeitet laufend daran, entstandene Immundefekte zu reparieren. Um so wichtiger ist es, dass wir ihm auch die Möglichkeit einräumen, seine Arbeit wirklich gut zu machen. Die schon in Frage 1 genannten Maßnahmen spielen hier natürlich eine Rolle. Doch die können wir noch beliebig ausweiten. Fangen wir morgens beim Duschen an: Hier hat uns Kneipp schon viele Hinweise überliefert. Ganz kalt duschen, oder die warme Dusche mit einem kalten Guss abzuschließen, die Räumlichkeiten gut zu lüften, um Sauerstoff in unseren Wohnbereich zu lassen. Alleine diese Liste lässt sich endlos fortsetzen. Gymnastik, Dehnungsübungen und kleinere sportliche Aktivitäten haben ebenso einen großen Stellenwert.
In der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wird immer auf die Bedeutung eines warmen Frühstücks hingewiesen. Es soll uns Energie und über den Tag mehr Kraft geben. Auch die Zufuhr von Mineralien und Vitaminen spielt eine Rolle. Insbesondere dann, wenn wir einem höheren Bedarf ausgesetzt sind, als wir durch unsere Lebensmittel aufnehmen können. Direkt immunstimulierende Produkte haben an dieser Stelle aber erst einmal nichts zu suchen, sofern wir keine gesundheitlichen Störungen haben. Es geht um Prävention und nicht um Behandlung.

Was gehört denn noch dazu?

Einen großen Teil haben wir ja bereits angerissen. Worauf ich bisher noch nicht eingegangen bin, ist die menschliche Psyche. Auch die spielt natürlich eine große Rolle in der Prävention. Unsere Psychohygiene vernachlässigen wir leider gerne. Das fängt schon an, dass wir uns viel zu schnell über alles aufregen, auch wenn sich das in der Regel nicht lohnt. Das lässt sich mit positiven Gesprächen mit Kollegen und anderen Mitmenschen ganz leicht ersetzen und erspart uns unnötige Diskussionen. Überlegen Sie mal, was ohnehin schon durch unsere Smartphones, Dauerbeschallung und vieles mehr über uns hereinbricht. Besser wir strukturieren die Flut der Medien gut. Mir persönlich hat übrigens das „Clean Desk Prinzip“ sehr geholfen, meiner Psyche mehr Freiraum zu geben. Das habe ich in einem Montagshappen-Artikel kennengelernt.

Was macht uns denn wirklich krank?

Die Menschheit wird seit Jahrhunderten mit krankmachenden Situationen konfrontiert. Früher waren es Seuchen und mangelnde Hygiene, die uns zu schaffen machten. Heute ist es die rasante technische Entwicklung und eine zum Teil übertriebene Hygiene.

Die Arbeit unseres Immunsystem wird von vielen Faktoren gelenkt. Denken Sie zum Beispiel mal daran, wie viele Rückrufe von verunreinigten Lebensmitteln und gepanschten Medikamenten es gibt. Oder hören Sie mal genau hin, mit wieviel Lärm Sie täglich konfrontiert sind. Das sind alles Faktoren, die unser Immunsystem zusätzlich zu unseren eigenen „Fehlern“ belasten.

Wichtig ist bei der Frage danach, was uns krank macht, dass wir stets individuell bleiben. Denn es gibt nicht den einen Standard, der jeden vor gleich große Herausforderungen stellt. Auch wenn klar ist, dass einiges im Alltag, was wir oft selbst gar nicht so sehr beeinflussen können, für sogenannte Zivilisationskrankheiten sorgt. In der Medizin sind wir immer wieder überrascht davon, dass Menschen mit dem gleichen Alltagsraster nicht zwangsläufig die gleichen Krankheiten bekommen.

Inwiefern zahlt unser Gesundheitssystem denn in das Thema Prävention ein? Was müsste hier besser laufen?

Unser Gesundheitssystem hat ein Vorsorgeprinzip entwickelt, um Krankheiten früh zu erkennen. Aber das ist keine Prävention. Wer bei einer Vorsorgeuntersuchung eine Diagnose bekommt, ist bereits krank und nicht mehr im wirklich präventiven Teil des Systems. Für mich heißt Prävention, das aktive Verhindern von Krankheiten. In der Medizin teilen wir die Prävention auf in Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention.

Schauen wir uns die den einzelnen Abschnitten zugeordneten Bereiche einmal an, haben wir eigentlich den Bereich Gesundheit bereits verlassen. Die Primärprävention ist noch am ehesten der vorbeugenden Lebensführung zuzuordnen. Aber wir befinden uns schon im Stadium der Krankheit oder der beginnenden Krankheit.

Wir brauchen also dringend Präventionsprogramme, wie sie einige Krankenkassen anbieten. So schnell diese in einen Leistungskatalog integriert sind, so schnell sind sie leider auch oft wieder verschwunden. Ernsthaft verfolgt wird Prävention meines Erachtens nach zumindest noch nicht.

Auch an unseren Universitäten wird wenig Prävention gelehrt und manche naturheilkundlichen Praxen werben mit Prävention, setzen aber nicht immer reproduzierbare Untersuchungen ein. Der Ernährungsmedizin ist im Moment der größte präventive Charakter zuzuschreiben. Hier klärt man am besten auf und die Forschung ist sehr gut geregelt. Aber auch dafür muss jeder erst einmal seinen individuell richtigen Partner finden.

Eines ist mir jedoch sehr wichtig zu sagen: Prävention ist in erster Linie immer die Selbstverantwortung jedes Menschen seinem eigenen Körper gegenüber. Allerdings spielt eine Erziehung in diese Richtung in unserer medizinischen Gesellschaft leider nur eine untergeordnete Rolle. Oder aber wir übertreiben durch eine Vielzahl von Angeboten, was Menschen dann dazu verleitet, die Verantwortung in falsche Hände zu legen, weil ihnen vermittelt wird, sie würden präventiv handeln.