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Trotz Corona – Übertriebene Hygiene kann auch krank machen

Neulich belauschte ich im Drogeriemarkt das Gespräch zwischen einer Verkäuferin (ohne Maske) und einem Kunden (mit Maske), der sichtlich verzweifelt auf der Suche nach Desinfektionsmittel für die Hände war. Die Verkäuferin versicherte dem aufgebrachten und auch ängstlichen Herrn, sie hätten wirklich keins mehr – auch nicht im Lager. Aber er wollte einfach nicht locker lassen und fuchtelte mit einer Packung Bakterien-Killer vor seinem Gesicht herum. Wie sehr die Dame auch versuchte, ihn zu überzeugen, dass dieses Mittel nicht gegen Corona-Viren helfe, sie drang nicht zu ihm durch. Aus schierer Panik heraus kaufte der Mann die unnütze Flüssigkeit

Zu viel Desinfektion

Ich behaupte nicht, Desinfektionsmittel sei per se schlecht. Das geschilderte Szenario zeigt aber deutlich, wie Komplex das Thema ist und wie wenig vernünftig wir Deutschen damit umgehen. Zu Zeiten einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben, ist Hygiene natürlich eines der wichtigsten und meist diskutierten Themen. Darin sind sich alle Experten einig. Gerade jetzt, da Deutschland dieser Tage nach Wochen aus dem Corona-Schock erwacht. Die ersten Lockerungen von Restriktionen finden bereits statt. Wir können fast überall wieder einkaufen und oft selbstgemachte Mund-Nasen-Schutzmasken halten Einzug in das tägliche Straßenbild. Ebenso wie Desinfektionsmittel am Eingang jedes kleinen und großen Ladengeschäfts. So weit, so gut.

Besondere Maßnahmen

Ein bisher unbekanntes Virus verlangt eben besondere Maßnahmen. Und natürlich halten wir uns auch in meiner Praxis an alle Hygienevorschriften, die von Bund und Land vorgegeben werden. Und trotzdem möchte ich an dieser Stelle betonen, dass nicht mangelnde Hygiene in Deutschland zu einer Ausbreitung des Virus geführt hat. Im Gegenteil. Wir Deutschen neigen sogar häufig zu übertriebener Hygiene, die in Sachen Virusabwehr kontraproduktiv wirken kann. Zurzeit scheint das schon fast in Hysterie auszuarten. Das ist nicht gesund – weder für unseren Körper noch für unsere Seele.

Medizin und Hausgebrauch – zwei Hygienewelten

Denn wir müssen ganz klar unterscheiden zwischen der Hygiene und Sterilität, die wir in der Medizin zwingend einsetzen müssen, um Patienten und Personal zu schützen und der für den alltäglichen Hausgebrauch. Zuhause desinfizieren wir Deutschen ganz klar zu viel und dann benutzen wir oft auch noch die falschen “Mittelchen“ – wie das oben geschilderte Beispiel deutlich zeigt. Hinzu kommt, dass übertriebene Hygiene den Säure-Basen-Haushalt unserer Haut massiv stört. Benutzen wir zu viel Seife oder Desinfektionsmittel zerstören wir unseren körpereigenen Schutzmantel der Haut und laden Viren und Bakterien so sogar noch in unseren Körper ein. Das ist sehr unglücklich und sollte unbedingt vermieden werden.

Hygiene mit Sinn und Verstand

All die Mittel wie Hygienespüler, Desinfektionssprays und viele weitere vermitteln uns ein „sauberes“ Gefühl – die Werbung trägt ihr Übriges dazu bei. Aber in Wahrheit sind sie ein echtes Gesundheitsrisiko. Das beste Beispiel: Die übertriebene Schnuller-Hygiene mit diversen Desinfektionsmitteln hat die meisten Allergiekinder in den 1970er Jahren hervorgebracht. Ehrlich, der Einsatz sanfter Spül- und Putzmittel sowie regelmäßiges Händewaschen reichen für eine gesunde Hygiene völlig aus. Ich glaube fest an den alten Spruch vieler Großeltern „Dreck reinigt den Magen“. Der hat etwas Sinnbildliches, auch wenn er medizinisch nicht wirklich nachweisbar ist.

80 Prozent nur mit Wasser

Mir ist völlig klar, dass Kritik an unseren Hygienevorstellungen nicht gern gelesen wird. Dennoch ist es mir wichtig, dass die wissenschaftliche Tatsachen einfach anders lauten als die Werbeslogans, mit denen Hygieneprodukte an die Leute gebracht werden sollen. Schauen wir uns gerne noch mal den aktuellen Covid-19-Fall an. Die Reinigung der Hände nur mit Wasser beseitigt bereits 80 Prozent aller Belastungen. Benutzen wir nun noch eine Seife mit fettlöslichen Substanzen, geht die Zahl der Erreger, egal welcher Herkunft, nahezu gegen Null. Für den Hausgebrauch reicht das völlig.

Die Anforderungen machen den Plan

Außerhalb des eigenen Haushalts sieht es natürlich anders aus. Da machen die jeweiligen Anforderungen den Plan. Es ist ja klar, dass die Gastronomie einen anderen Hygiene-Standard fordert als medizinische Praxen. Krankenhäuser wiederum benötigen noch schärfere Standards. Die stellen eine besondere Herausforderung dar. Viele Menschen sterben heute durch den Hospitalismus, also an einer Infektion mit Keimen die aktiv im Krankenhaus verbreitet werden und das Immunsystem schwächen. Resistenz gegen häufig unnötig verabreichte Antibiotika ist nur einer der Gründe dafür. Die Übertragung der Reinigungsdienste auf auswärtige Firmen und die Abschaffung von festen Besuchszeiten haben unsere Krankenhäuser in diese desolate Situation gebracht.

Medial wirksam

Wir haben Gewohnheiten aufgegeben, um Kosten zu sparen und uns dadurch massive Probleme geschaffen. In den 1980 Jahren war all das noch überhaupt kein Thema. Heute hat die Pharmaindustrie nur ein geringes Interesse, einen Stoff gegen Keime zu entwickeln, die nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung erwischen. Zu teuer sind die Entwicklungskosten, zu gering die Einnahmen, die daraus zu erwarten sind. Für die Industrie lohnt sich nur ein Bakterium oder ein Virus, der medial wirksam ist. Das zeigt das Beispiel Covid 19 sehr deutlich. Sind wir aber ehrlich, haben wir bereits seit Jahren im Gesundheitssystem ein schweres Infektionsproblem – leider aber meist bei Menschen, die bisher nicht zur Lobby des Gesundheitswesens gehörten.